Aufarbeitung
Allgemeines
Unter Aufarbeitung wird im Zusammenhang mit Organisationen die systematische Erfassung, Analyse und Bewertung von Fällen des Fehlverhaltens der in ihr Mitwirkenden, des jeweiligen Umgangs mit den dadurch entstandenen Vorfällen und der Rahmenbedingungen, die die Missstände erklären, ermöglichten oder beförderten, verstanden. Es kann sich sich nicht nur um die historische Betrachtung lange zurückliegender Vorgänge handeln, sondern auch um die Bearbeitung in jüngster Zeit abgeschlossener Skandale, wobei die Aufarbeitung meist stark verzögert erfolgt. Entsprechend sind die Ziele nicht nur die Reflektion früherer Ereignisse, um eine nachträglich für Verständnis und ein Gefühl der Gerechtigkeit zu sorgen, sondern es sollen auch Lehren für die Zukunft zu ziehen, um zumindest die vergleichbaren Vorfälle zu verhindern.
Im heutigen Deutschen Roten Kreuz (DRK) gab es einzelne, jeweils stark verspätete Projekte zur Aufarbeitung der Rolle des gleichnamigen, früheren DRK in den beiden deutschen Unrechtsstaaten des 20. Jahrhunderts, das heißt im NS-Staat (1933–1945) und in der Deutschen Demokratische Republik (1949–1990). Im westdeutschen DRK wurden die gravierenden Missstände in den Verschickungsheimen (1950er- bis 1990er-Jahre), ebenfalls mit mehreren Jahrzehnten Verspätung, untersucht.
Verzögerte Aufarbeitung
Es ist organisationsübergreifend typisch, dass eine Aufarbeitung mit großem zeitlichen Abstand erfolgt, weil dann Verantwortliche, auf die Rücksicht zu nehmen wäre, nicht mehr im Amt, oder sogar wie andere Handelnde bereits verstorben sind. Das erleichtert die Untersuchung der Vorgänge und die Veröffentlichung der Ergebnisse, weil die betreffenden Personen aus Sorge um ihr Ansehen keinen Einfluss mehr nehmen und nicht mehr sanktioniert werden können. Zudem kann die Organisation die Schuld auf die damals Handelnden und die früheren gesellschaftlichen Umstände abladen, sich also zugleich von aktueller Verantwortung freisprechen. Dadurch entsteht kein Schaden für den aktuellen Status der Organisation, ihre aktuellen Aktivitäten werden nicht negativ beeinflusst, und es müssen in der gegenwärtigen Organisation keine Veränderungen aufgrund der neuen Erkenntnisse über ihre Vergangenheit vorgenommen werden.
Weiterhin können Ansprüche auf Schadenersatz verjährt sein, so dass eine verzögerte Aufarbeitung die betroffene(n) Gliederung(en) vor wirtschaftlichem Schaden schützt.
Auf Kreisebene und teilweise auch auf Landesebene sind die Gliederungen des Deutschen Roten Kreuzes, verstärkt ab den 1990er-Jahren, zu hauptamtlich geprägten Sozialunternehmen geworden, die wirtschaftlich darauf angewiesen sind, weiterhin subsidiär von den für ihr Gebiet zuständigen Gemeinden und den Ländern beauftragt und damit finanziert zu werden. Ihnen fehlt dadurch strukturell die eigentlich geforderte Unabhängigkeit, um jüngst zurückliegende Ereignisse aufarbeiten zu können.
Durchgeführte Aufarbeitung
Zeit des Nationalsozialismus
Die Rolle des damaligen, 1945–1946 aufgelösten Deutschen Roten Kreuzes in der Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945) wurde mittlerweile recht gründlich aufgearbeitet. In der Nachkriegszeit vermieden die DRK-Gliederungen in Westdeutschland einen Rückblick, nahmen die ihnen von außen aufgezwungene, halbherzige Entnazifizierung hin und ließen pragmatisch viele personelle Kontinuitäten zu. Im Einklang mit der gesamtgesellschaftlich gepflegten, bequemen Haltung, die Verantwortung für die eklanten Verbrechen und das übrige Unrecht des NS-Staats (1933–1945) einer kleinen, diktatorischen Elite zuzuschreiben, sich selbst eine passive, geradezu einem Opfer gleichende Rolle zuzuschreiben und vermeintlich keine Kenntnis von beispielsweise dem Holocaust gehabt zu haben, verdrängte man die Vergangenheit und konzentrierte sich auf die vielfältigen sozialen und gesundheitlichen Herausforderungen der Nachkriegszeit.
In Ostdeutschland stellte sich die Frage nicht, weil das 1945 in der sowjetisch besetzten Zone verbotene DRK nicht wie im Westen zügig örtlich und regional neu gegründet wurde und weiter tätig war, sondern vollständig aufgelöst und abgewickelt wurde. Das erst 1952 mit einem zeitlichen Abstand von sieben Jahren neu gegründete Deutsche Rote Kreuz der DDR (1952–1990) hatte es naturgemäß einfacher, mit nationalsozialistischen Altlasten umzugehen.
Die Aufarbeitung der engen Verflechtungen des DRK mit dem NS-Staat erfolgte lange Zeit außerhalb der Organisation durch einzelne kritische Berichte in der Presse, zum Beispiel über die Zustände im nach dem Koreakrieg (1950–1953) vom Bundesverband in der südkoreanischen Stadt Busan betriebenen stationären Krankenhaus (1954–1959) und seinem belasteten Chefarzt, dem Mediziner Günther Huwer (1899–1992).1 Weiterhin gab es einzelne weitere Publikationen dazu. Seitens des DRK stand ein halbes Jahrhundert lang die Verdrängung des Dritten Reichs im Vordergrund.
Der anhaltende, lauter werdende Vorwurf gegenüber der Organisation, ihre Vergangenheit zu verdrängen, und unter anderem das für die Geschichtsschreibung des Deutschen Roten Kreuzes epochale Werk von Riesenberger in 20022 führten zu einer Reihe wissenschaftlicher Studien, die die Rolle des DRK in der Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945) besser ausleuchteten. Beispiele dafür sind die Monografien von Wicke in 20023, von Poguntke in 20094 und Hellenschmidt in 2010.5 Die ausführliche, seitens des Bundesverbands geförderte Untersuchung von Merkenich und Morgenbrod, die 2008 erschien6, stellte seitens der Organisation einen vorläufigen Abschluss der Aufarbeitung dar.
Bemerkenswerterweise stellt der Bundesverband die Rolle seiner Vorgängerorganisation auf seiner Website dar7 und die mit von ihm seit 2019 herausgegebenen Beiträge zur Rotkreuzgeschichte berücksichtigen auch das Dritte Reich, wenn auch bisher (2025) ohne eine dedizierte Publikation dazu.
Deutsche Demokratische Republik
Das Deutsche Rote Kreuz der DDR war als Massenorganisation mit in Spitzenzeiten einem Engagement von ca. 4 % der Gesamtbevölkerung fest in das gesellschaftliche System der Deutschen Demokratische Republik (DDR, 1949–1990) eingegliedert. Seine Rolle in diesem Unrechtsstaat wurde inzwischen grundsätzlich aufgearbeitet, wie üblich mit einer deutlichen zeitlichen Verzögerung — hier drei Jahrzehnte —, vor allem durch das vom Bundesverband geförderte und 2019 erschienene Werk von Brinckmann.8 Eine in der Reihe Beiträge zur Rotkreuzgeschichte von Schomann, Liebner und Bresgott herausgegebene Sammlung von Berichten von Zeitzeugen hat einen naturgemäß nicht systematischen und teils nostalgisch wirkenden Charakter, gibt aber bemerkenswert ungefiltert die subjektiven Eindrücke wieder.9
Bisher (2025) nicht hinreichend aufgearbeitet wurde die auffällig starke Durchdringung des DRK der DDR durch informelle Mitarbeiter (IM) und gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit (GMS) des → Staatssicherheitsdienstes, ihr Einfluss auf das Rote Kreuz und ihr eventueller Verbleib in der Organisation nach der Wende 1989/90, dem Beitritt der in der DDR neu gegründeten Landesverbände zum Deutschen Roten Kreuz in Westdeutschland und der damit 1991 erreichten Vereinigung der beiden Nationalen Gesellschaften.
Verschickungsheime in Westdeutschland
In den heutzutage so genannten → Verschickungsheimen (Kinderkurheimen), von denen eine Reihe von Gliederungen des Deutschen Roten Kreuzes betrieben wurden, kam es von den 1950er- bis in die 1990er-Jahre in erheblichem Maße zu Unrecht durch alle Gewaltformen gegenüber einer Vielzahl von Kindern, die auch als Verschickungskinder bezeichnet werden. Kritische Publikationen wie durch Röhl seit 200910, Lorenz in 202111 und Portale mit Sammlungen von Zeitzeugenberichten12 veranlassten vergleichsweise zügig die Wohlfahrtsverbände zu eigenen Aufarbeitungsprojekten. In diesem Rahmen veröffentlichte das Deutsche Rote Kreuz 2024 einen Band in der Reihe Beiträge zur Rotkreuzgeschichte13 und eine externe Studie in 202514.
Ausstehende Aufarbeitung
Sexueller Missbrauch
Während in Kirchen, besonders in der katholischen Kirche, eine sehr gründliche und geradezu schonungslose Aufarbeitung des dort geschehenen sexuellen Missbrauchs stattfindet, wird das Thema in allen Hilfsorganisationen und Wohlfahrtsverbänden, darunter auch vom Deutschen Roten Kreuz, gemieden und in der Außendarstellung auf unglückliche Einzelfälle, die in das Hellfeld geraten und zudem öffentlich bekannt geworden sind, reduziert. Aufarbeitungsprojekte in der Branche stellen eine Ausnahme dar15, dabei ist angesichts der in Deutschland hohen Prävalenz16 und dem erhöhten Risiko im Deutschen Roten Kreuz mit seinen hierarchischen Strukturen, seiner dezentralen Organisation, dem ausgeprägten Ehrenamt, den kulturellen Defiziten bei Compliance und dem für Täter leichten Zugang zu vulnerablen Personen mit einem hohen Risiko für Vorfälle zu rechnen und damit auch mit einer gewissen Anzahl von Missbrauchsfällen in der Vergangenheit zu rechnen. Dafür sprechen die öffentlich bekannt gewordenen Fälle, zum Beispiel in Augsburg17, Bochum18 und Märkisch-Oder-Havel-Spree19.
Mit den DRK-Standards zum Schutz vor sexualisierter Gewalt wurde 2012 allen Gliederungen bundesweit verbindlich vorgeschrieben, Maßnahmen zum Schutz von Kinder, Jugendlichen und Menschen mit Behinderungen zu treffen. Die Umsetzung läuft und kann aufgrund des Themas, das einer fortlaufenden Sensibilisierung bedarf, niemals abgeschlossen sein. Dabei ist zu begrüßen, dass inzwischen der Anwendungsbereich auf anvertraute Personen ausgedehnt wurde20 von auch die ehrenamtlich und hauptamtlich Tätigen von den Schutzkonzepten erfasst werden.
Bereicherung und Bevorteilung
Sporadisch werden Fälle in einer Gliederung des Deutschen Roten Kreuz tätigen Personen öffentlich bekannt, denen seitens der Organisation — rechtmäßig oder unrechtmäßig — überraschend hohe wirtschaftliche Vorteile zugutekamen. Es gibt ganz eklatante Beispiele wie den → 2000 wegen Untreue und Steuerhinterziehung verurteilten Landesgeschäftsführer des Bayerischen Roten Kreuzes und den zugleich, zusätzlich wegen Betruges verurteilten Geschäftsführer des Blutspendedienstes des BRK. Anders gelagert aber mit ebenfalls hohem Schaden verbunden ist das Beispiel des IT-Bereichsleiters der DRK-Kliniken in Berlin, der 2024 wegen Betrugs verurteilt wurde.21 Die Vorwürfe gegen den ehemaligen Landesgeschäftsführer und später hauptamtlichen Vorstand des Landesverbands Sachsen, der 2025 zusammen mit weiteren Personen wegen schwerer Untreue angeklagt wurde, befindet sich aktuell (2025) noch in der gerichtlichen Klärung.22
Neben solchen Fällen, bei denen möglicherweise oder tatsächlich Straftaten begangen wurden, um sich persönlich an der Organisation zu bereichern, wurden auch Fälle bekannt, die als solche offenbar nicht unrechtmäßig waren aber eine schlechte Außenwirkung haben. Als Beispiele dafür sollen hier die kolportierte hohe Bezahlung einer Oberin der Schwesternschaft Berlin23 und wohl auch von ärztlichen Leitern von Impfzentren während der COVID-19-Pandemie24 genannt werden.
Insolvenzen von Gliederungen
Die Anzahl der → Insolvenzen von Gliederungen des Deutschen Roten Kreuzes dürfte sich historisch und aktuell ungefähr auf einem branchenüblichen Niveau bewegen. Nichtsdestotrotz sollten der Verband den Anspruch haben, sie möglichst weitgehend zu verhindern. Mit den Möglichkeiten der aufsichtsführenden Gremien und der verbandlichen Intervention gibt es dazu wirksame präventive Instrumente, die offenbar mitunter unzureichend genutzt werden. Diese strukturellen oder auch gegebenenfalls personellen Mängel könnten durch eine systematische Aufarbeitung der zurückliegenden Insolvenzen und anderen wirtschaftlichen Schieflagen, bei denen eine Insolvenz abgewendet werden konnte, identifiziert und dadurch adressiert werden.
Weitere Informationen
- Artikel Compliance
- Kategorie Urteile und Entscheidungen
Einzelnachweise
- ↑ Mehr über Vorgänge finden sich im → Artikel Verdrängung des Dritten Reichs.
- ↑ Dieter Riesenberger, Das Deutsche Rote Kreuz. Eine Geschichte 1864–1990, Paderborn 2002.
- ↑ Markus Wicke, SS und DRK. Das Präsidium des Deutschen Roten Kreuzes im nationalsozialistischen Herrschaftssystem. 1937–1945, Norderstedt 2002.
- ↑ Peter Poguntke, Gleichgeschaltet: Rotkreuzgemeinschaften im NS-Staat, Wien/Köln 2009.
- ↑ Clemens Hellenschmidt, Der DRK-Krankentransport 1943–1945. Vorgeschichte, Entstehung, Organisation und Auswirkungen bis in die Gegenwart, Hamburg 2010.
- ↑ Stephanie Merkenich, Birgitt Morgenbrod, Das Deutsche Rote Kreuz unter der NS-Diktatur 1933-1945, Paderborn 2008.
- ↑ DRK.de, Die Umpolung im „Dritten Reich“.
- ↑ Andrea Brinckmann, Das Rote Kreuz in der DDR. Humanitäre Grundsätze und staatliche Lenkung – die Geschichte der Hilfsorganisation von 1952 bis 1990, Berlin 2019.
- ↑ Stefan Schomann, Petra Liebner, Hans-Christian Bresgott (Hrsg.), Das war so unser Leben. Erinnerungen an das DRK der DDR, München 2022.
- ↑ Anja Röhl, Hände hoch – Und dann bin ich verloren!, in: junge Welt, 9. September 2009, Seite 13. Sowie: Anja Röhl, Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt, 2. Auflage, Gießen 2022.
- ↑ Hilke Lorenz, Die Akte Verschickungskinder. Wie Kurheime für Generationen zum Albtraum wurden, Weinheim 2021.
- ↑ Zum Beispiel Verschickungsheime.de.
- ↑ Sebastian Funk, Johannes Karl Staudt (Hrsg.), Haus Hohenbaden. Das DRK-Kindersolbad Bad Dürrheim in der Überlieferung des Badischen Roten Kreuzes, München 2024.
- ↑ DRK.de, Wissenschaftliche Studie zu Kinderkurheimen.
- ↑ Zum Beispiel: Helga Dill, Pädagogische Nähe und mögliche sexuelle Grenzverletzungen beim Tübinger Verein für Sozialtherapie bei Kindern und Jugendlichen e.V. 1976–1982. Eine Aufarbeitungsstudie, München 2023.
- ↑ Beauftragte-Missbrauch.de, Zahlen zu sexuellem Kindesmissbrauch in Deutschland.
- ↑ Siehe Artikel Bundesgerichtshof – 1 StR 364/19 – 19. November 2019.
- ↑ Siehe Artikel Bundesgerichtshof – 4 StR 503/13 – 6. Mai 2014. Bochum ist der Ort, an dem die gerichtliche Aufarbeitung stattfand, nicht die Taten
- ↑ Siehe Artikel Landgericht Frankfurt (Oder) – 4 KLs 7/23 – 29. September 2023.
- ↑ DRK-Wohlfahrt.de, Schutz vor sexualisierter Gewalt.
- ↑ Siehe Artikel Landgericht Berlin I – 25. April 2024.
- ↑ Siehe Artikel Landesverband Sachsen#Rüdiger Unger.
- ↑ ÄrzteZeitung.de, DRK-Schwesternschaft. Gehaltsexzesse sollen der Vergangenheit angehören, 25. Februar 2016.
- ↑ Siehe Artikel Bundesgerichtshof – 4 StR 225/22 – 1. Juni 2023. Die hohe Bezahlung wurde nicht thematisiert, sondern dass der vorgebliche Arzt tatsächlich kein Arzt, sondern ein Hochstapler war.