Verschickungsheim

Nachschlagewerk über das Deutsche Rote Kreuz und die Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung
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Allgemeines

Begriffsbestimmung

Als Verschickungsheime werden hier stationäre Einrichtungen bezeichnet, die von der Nach­kriegs­zeit — nach dem Zwei­ten Welt­krieg (1939–1945) — bis in die 1980er-Jahre von öffentlichen und ganz überwiegend privaten Trägern betrieben wurden, um mehrwöchige Kinderkuren durchzuführen. Durch die Wahl des Begriffs soll eine Abgrenzung von heutigen Kureinrichtungen sichergestellt werden. Damals wurden die Einrichtungen unter anderem als Kinderheilstätten oder Kinderheime bezeichnet.

Misshandlungen und DRK

In den Heimen wurden die dort zur gesundheitlichen Verbesserung untergebrachten Kinder nicht nur übermäßig streng, sondern teils auch grob misshandelt und sogar missbraucht. Das geschah auch in Heimen, die von einer Gliederung des Deut­schen Roten Kreu­zes getragen wurden oder dem DRK nahestanden. Mitte der 1960er-Jahre wurden 3 % der bundesweit über 1100 Heime vom DRK betrieben.1 Der Bundesverband schätzte im Jahrbuch 2021 vorläufig die Anzahl auf 38 Stück.2 Der Landesverband Schleswig-Holstein und das Generalsekretariat des Bundesverbands haben 2021 mit der Aufarbeitung des Geschehnisse begonnen.3 Geschätzt bis zu 8 Millionen Kinder sollen Verschickungsheime aller Träger besucht haben.

Abgrenzung zu Kinderheimen

Bemerkenswert und nicht zufällig parallel zu den Misshandlungen in den Verschickungsheimen verlief der Umgang in Heimen, wo Kinder und Jugendliche dauerhaft durch Fürsorgeämter oder Jugendämter untergebracht worden waren. Die Anzahl der davon Betroffenen zwischen 1949 und 1975 wird auf 700.000 bis 800.000 Menschen geschätzt, und gegenüber Verschickungsheimen gab es durch den viel längeren Aufenthalt und die größere Abhängigkeit mehr Missbrauch durch sexualisierte Gewalt.4 Solche Kinderheime gab es auch Trägerschaft von Gliederungen des DRK, zum Beispiel in Niedersachsen und Oldenburg.5 Ob und wieweit in Kinderheimen des DRK Gewalt gegen Kinder ausgeübt wurde, ist hier nicht bekannt. In diesem Artikel geht es um die Verschickungsheime.

Klassische Kinderheime der Heimerziehung gibt es im Deutschland nicht mehr. Bedarfsgerechte Einrichtungen der stationären Jugendhilfe versorgen Kinder und Jugendliche, für die eine ambulante Unterstützung nicht ausreichend oder nicht möglich ist. Im Rahmen der Wohlfahrtspflege sind Gliederungen des Deutschen Roten Kreuzes dort subsidiär tätig.

Misshandlungen und Missbrauch

Es ist noch nicht ausreichend erforscht worden, in welchem Umfang es generell zu Misshandlungen und Missbrauch in den Heimen kam und wieweit das in den von DRK-Gliederungen getragenen Einrichtungen geschah. Zahlreiche Berichte von Betroffenen und Recherchen legen jedoch nahe, dass es eine allgemeine Fehlentwicklung gab und Kindern grober Schaden zugefügt wurde. Es sind auch Todesfälle von Kindern dokumentiert, die direkt durch eine Misshandlung oder durch Vernachlässigung verursacht wurden.

Beispielsweise im DRK-Kindersolebad Haus Hohenbaden (auch: DRK-Haus Hohenbaden) in Bad Dürrheim sollen in den 1960er-Jahren Medikamente an Kindern getestet worden sein.6 Es gibt darüber hinaus Berichte von Betroffenen über ihre unmenschliche Behandlung durch das Personal der Einrichtung. Dieses Heim wurde 1906 als Kindersolbad des Badischen Frauenvereins in Dürrheim im Schwarzwald gegründet und 2004 geschlossen.7 Zuletzt war es im Besitz des Badischen Roten Kreuzes, das das mittlerweile leerstehende Objekt 2013 verkaufte.

Die unwürdige und missbräuchliche Behandlung von der vulnerablen Kinder steht in einem eklatanten Missverhältnis zum Selbstverständnis des Deut­schen Roten Kreu­zes. Als Mitglied der Rotkreuz- und Rothalb­mond-Be­we­gung ist es an deren Grundsätze gebunden, die 1965 beschlossen wurden. Insbesondere der Grundsatz der Menschlichkeit wurde durch die Verschickungsheime verletzt, denn es widerspricht dem Ziel der Bewegung, durch Hilfsmaßnahmen der Würde des Menschen Achtung zu verschaffen, die besonders verletzlichen Kinder zu erniedrigen oder anderweitig zu quälen. Das ist auch nicht durch andere damalige erzieherische Konzepte, die teils der schwarzen Pädagogik nahestanden, zu entschuldigen.

Heime (Auswahl)

Verschickungsheime wurden zumindest von den Landes­verbänden in Baden, Baden-Württemberg, Berlin, Hessen, Niedersachsen, Oldenburg, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Westfalen-Lippe betrieben. Außerdem waren Schwesternschaften beteiligt. Die folgende Liste von Heimen dürfte nicht vollständig sein, sollte aber den Stand in den 1960er-Jahren recht gut wiedergeben.

Ort Bezeichnung Gliederung
Nieblum (auf Föhr),
Schleswig-Holstein
DRK-Kinderkurheim Landesverband Schleswig-Holstein
Glücksburg (Ostsee),
Schleswig-Holstein
DRK-Kindererholungsheim Schausende Kreisverband Flensburg?
Landesverband Schleswig-Holstein
Wittdün (auf Amrum),
Schleswig-Holstein
DRK-Kindererholungsheim Kreisverband Südtondern (Niebüll)
Landesverband Schleswig-Holstein
Burg (auf Fehmarn),
Schleswig-Holstein
DRK-Kinderheim DRK-Kreisverband Oldenburg/Holstein?
Landesverband Schleswig-Holstein
Uelzen,
Niedersachsen
DRK-Kinderheim Kreisverband Uelzen
Landesverband Niedersachsen
Schillig,
Niedersachsen
DRK-Kinderheim Friesland
(heute: DRK Nordsee-Kurzentrum Schillig?)
Landesverband Oldenburg
Clausthal-Zellerfeld,
Niedersachsen
DRK-Kinderkurheim Voigtslust Landesverband Niedersachsen
Wiesbaden,
Hessen
DRK-Kindererholungsheim Taunusfreude Bezirksverband Wiesbaden
Landesverband Hessen
Brandau,
Hessen
DRK-Kindererholungsheim Henry Dunant Bezirksverband Darmstadt
Landesverband Hessen
Berlebeck (Detmold),
Nordrhein-Westfalen
DRK-Kinderkurheim Johannaberg Landesverband Westfalen-Lippe
Marl,
Nordrhein-Westfalen
Kleinkinderkurheim Kreisverband Recklinghausen?
Landesverband Westfalen-Lippe
Kirchberg an der Jagst,
Baden-Württemberg
DRK-Kindererholungsheim Adelheidstift Landesverband Baden-Württemberg
Schönwald im Schwarzwald,
Baden-Württemberg
Kinderheim Waldpeter Kreisverband Villingen-Schwenningen
Badisches Rotes Kreuz
Schluchsee,
Baden-Württemberg
Kinderheim Lindenhof Kreisverband Hochschwarzwald
Badisches Rotes Kreuz
Birkenfeld (Nahe),
Rheinland-Pfalz
Hochwaldsanatorium des DRK-Elisabeth-Krankenhauses (heute: Krankenhaus der Elisabeth-Stiftung Birkenfeld) Kreisverband Birkenfeld
Landesverband Rheinland-Pfalz
später: Elisabeth-Stiftung des Deutschen Roten Kreuzes zu Birkenfeld/Nahe
Elmstein,
Rheinland-Pfalz
Kindererholungs- und Schullandheim Speyerbrunnenhof / Kindererholungsheim Schafhof Verein Pfälzer Ferienheime e.V. (Betrieb offenbar in Kooperation mit einer DRK-Schwesternschaft)
Berlin Kinderheim „Teddybär“ Landesverband Berlin
Berlin Kinderheim "Fuchsbau" Landesverband Berlin
Berlin Kinderheim „Dachsbau“ Landesverband Berlin
Berlin Kinderheim „Bieberbau“ Landesverband Berlin

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Monografien

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Einzelnachweise