Grundsätze der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung
Allgemeines
Grundlegende Regelung
Die sieben Grundsätze der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung1 sind die höchsten Regelungen für die Arbeit des Roten Kreuzes als Organisation. Sie gelten in der gesamten Bewegung, wozu die Nationalen Gesellschaften wie das Deutsche Rote Kreuz gehören. Das DRK ist zusätzlich durch das DRK-Gesetz verpflichtet, die Grundsätze zu beachten.2
Die Grundsätze sind allgemeine Rahmenbedingungen, unter denen das Rote Kreuz tätig wird. Sie definieren Menschlichkeit und Unparteilichkeit als Ziele der Tätigkeit und geben Mittel an die Hand, diese Ziele zu erreichen: Neutralität und Unabhängigkeit. Zu den Mitteln gehört auch die Art und Weise wie die Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung organisiert ist: Freiwilligkeit, Einheit und Universalität. Aus dieser Reihenfolge der Grundsätze ergibt sich das Merkwort MUNUFEU.
Kritik an den Grundsätzen
Die Grundsätze schränken die Handlungsmöglichkeiten der Gliederungen des Roten Kreuzes ein, um dadurch auf das überragende humanitäre Ziel der Organisation fokussieren zu können und das Ziel nicht zu gefährden. In Deutschland betrifft das zum Beispiel die Zusammenarbeit mit Behörden im Bereich des Suchdienstes. Die Selbstbeschränkung durch die Grundsätze wurde auch immer wieder kritisiert. Zum Beispiel wurde die Hilfsorganisation Médecins Sans Frontières von französischen Ärzten gegründet, die im Biafra-Krieg (1967–1970) für das Französische Rote Kreuz im Einsatz waren und sich am Grundsatz der Neutralität stießen. Die Satire Hänsel, Gretel und das Rote Kreuz (1973) ist ein anderer Ausdruck dieser Kritik.
Verbindlichkeit der Grundsätze
Ungeachtet der Herausforderungen, die die Beachtung der Grundsätze mit sich bringt, stellen sie den ideellen Kern des Roten Kreuzes dar und sind einzuhalten.3 Die kontinuierliche inhaltliche Auseinandersetzung mit den Grundsätzen ist durch die sich ständig verändernde Gesellschaft, in der und als Teil dessen das Deutsche Rote Kreuz tätig ist, notwendig. Daher sind sie auch eine zentrale Seminareinheit des Rotkreuz-Einführungsseminars, das von ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeitern besucht werden soll. Die Grundsätze gelten ausdrücklich auch bei Krisen4; gerade dann sind sie sogar besonders zu beachten.
Keine Weltanschauung
Die Grundsätze stellen keine Weltanschauung dar, die mit der einer Religionsgemeinschaft vergleichbar ist. Das stellte das Bundesverfassungsgericht am 30. April 2015 fest: Die Grundsätze können eine Weltanschauung und auch eine Religion mit prägen, enthalten jedoch keine insofern spezifische Aussage zur Gesamtheit des menschlichen Lebens, weil weder der Mensch im Kern seiner Persönlichkeit angesprochen noch auf umfassende Weise der Sinn der Welt und des menschlichen Lebens erklärt wird.5 Außerdem sei eine weltanschauliche Dimension kein bestimmendes Element ihrer Tätigkeit, das [das DRK6] von anderen Unternehmen unterscheiden würde.5 Die Grundsätze haben also nicht genug Inhalt, um eine Weltanschauung zu konstituieren, und die Organisation hat keine Weltanschauung auf Basis der Grundsätze entwickelt.
Bedeutung der Grundsätze
Die Grundsätze werden in eigenen Artikeln erläutert:
→ Menschlichkeit
→ Unparteilichkeit
→ Neutralität
→ Unabhängigkeit
→ Freiwilligkeit
→ Einheit
→ Universalität
Entstehung
Die Grundsätze wurden 1965 bei der XX. Internationalen Konferenz in Wien beschlossen7 und anschließend zusammen mit anderen Entscheidungen veröffentlicht8. Den Anstoß dazu bot eine 1955 erschienene Studie von Jean Pictet (1914–2002), in der er 17 mögliche Grundsätze diskutierte.9 Zuvor gab es die Oxford-Grundsätze von 1948, die sich weitgehend aber nicht vollständig in den heutigen Grundsätzen, Weltkernaufgaben und Regularien der Bewegung wiederfinden.
Mögliche weitere Grundsätze
Treue
Der Grundsatz der Treue würde die sieben Grundsätze ergänzen, indem er zu einem einfordert, dass sie überhaupt beachtet und nicht nur als wohlklingende Sprüche für Werbezwecke verwendet werden, zu anderem würde er auf Loyalität gegenüber der Organisation, ihren Regularien und externen Regelwerken (Compliance) bestehen.
→ Treue
Demokratie
Einen weiteren Grundsatz schlug Werner Heim in der Folge Du hast die Wahl! des Podcasts 7 Gute Gründe vom 23. März 2021 vor: Demokratie.10
Damit plädiert er für eine stärkere Betonung des Prinzips, dass die Mitglieder durch Wahlen an der Steuerung der Organisation teilhaben. Die Idee könnte weitergedacht werden und auch über Wahlen hinausgehende partizipative Elemente eingeführt werden.
Gerechtigkeit
Die sieben gültigen Grundsätze geben Ziele vor, ganz voran durch die Menschlichkeit, schränken die Mittel zu ihrer Erreichung ein, beispielsweise durch die Freiwilligkeit, und geben mit zum Beispiel Einheit und Unabhängigkeit Strukturen für die Organisation vor. Ein Mittel, das nicht ausgeschlossen wird, jedoch selbstverständlich nicht zu einer humanitären Organisation passt, ist Gewalt jeder Art, egal ob physisch, psychisch, sexualisiert, strukturell oder in anderer Form.
Es müssen nicht alle gesellschaftlich breit anerkannten moralischen Werte zu einem Grundsatz für das Rote Kreuz erhoben werden, der spezifisch, also ein differenzierendes Merkmal sein sollte. Doch ist Gewaltfreiheit von so wesentlicher Bedeutung gerade für die Ziele der Bewegung, dass eine eigene Betonung gerechtfertigt ist. Das ließe sich auch als Teil der Menschlichkeit sehen, aber eine lediglich abgeleitete Maxime wirkte schwächer. Gerechtigkeit hat auch eine Verbindung zu einem anderen gültigen Grundsatz, der Unparteilichkeit, die Diskriminierung verbietet.
Grundsätze sollten positiv formuliert sein, und Gerechtigkeit ist das Gegenteil von Gewalt.11
Praktische Konsequenzen der Gerechtigkeit wäre zum Beispiel die häufig vernachlässigte Prävention sexualisierter Gewalt, ein Verbot von gewaltverherrlichenden Darstellungen mit erkennbarer Verbindung zum Roten Kreuz in sozialen Medien und Maßnahmen gegen eine Kultur des Mobbings. Weiterhin könnte der vorgeschlagene Grundsatz der Demokratie nachvollziehbar unter Gerechtigkeit subsumiert werden. Außerdem wäre Gerechtigkeit ein Maßstab, um über die Durchführung und Ausgestaltung von Hilfsmaßnahmen zu entscheiden: Benachteiligt eine Hilfe für eine Personengruppe direkt oder mittelbar eine andere Gruppe? Wie werden begrenzte Ressourcen auf hilfsbedürtige Menschen verteilt?
Kontrolle und Durchsetzung
Staatliche Kontrolle
Für das Deutsche Rote Kreuz sind die Grundsätze nicht nur durch seine Zugehörigkeit zur Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung verbindlich, sondern es ist ihm darüber hinaus durch das DRK-Gesetz vom Staat vorgeschrieben. Jedoch gibt es keine Aufsichtsbehörde für den Bundesverband als Nationale Gesellschaft, die die Beachtung von Regeln kontrolliert und bei Bedarf korrektiv einwirkt. Das ist der Organisation selbst überlassen, was ihrer Unabhängigkeit zugutekommt, jedoch gesunden Druck von außen nimmt. Mögliche Interventionen von staatlicher Seite, um das DRK bei einer Nichtbeachtung der Grundsätze zu einer Verhaltensänderung zu bewegen, sind beispielsweise Appelle, Reduzierung und Streichung von Zuschüssen, keine Berücksichtigung bei Vergaben und die Androhung des Entzugs des Status des Status als Nationale Gesellschaft. Die Hürde für die Anerkennung des Status liegt sehr hoch, weil der Bundestag das DRK-Gesetz ändern müsste, oder eine andere Organisation zum neuen DRK werden und das bisherige DRK seinen Namen ablegen müsste.
In Bayern ist die Situation aufgrund der Rechtsform des Bayerischen Roten Kreuzes, das eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, anders. Gemäß BRK-Gesetz führt das Bayerische Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration die Rechtsaufsicht über das Bayerische Rote Kreuz. Bei diesem Landesverband kann der Staat also prüfen, ob die Grundsätze beachtet werden, und im Falle einer Abweichung auf eine Verbesserung hinwirken. Eine direkte Interventionsmöglichkeit hat er jedoch nicht.
Verbandliche Kontrolle
Auf internationaler Ebene liegt eine Kontrollfunktion bei den beiden internationalen Organisationen des Roten Kreuzes: Internationales Komitee vom Roten Kreuz und Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften. Wenn eine Nationale Gesellschaft die Grundsätze oder andere Prinzipien nicht beachtet, dann nehmen sie Einfluss, um die Gesellschaft dazu zu bringen, dass sie das wieder tut. Beispielsweise hatten die Föderation in 2019 die Mitgliedsrechte der Nationalen Gesellschaft in Griechenland suspendiert. Als letztes Mittel kann das Komitee den Status als Nationale Gesellschaft widerrufen.
Auf nationaler Ebene gibt es das Deutsche Rote Kreuz als Nationale Gesellschaft. Jede seiner Gliederungen hat zunächst selbst eine eigene Aufsicht, die gemäß ihrer zum Beispiel Vereinssatzung eingerichtet ist. Im Verein wird die Geschäftsführung durch den Vorstand kontrollieren, sofern er nicht selbst die Geschäfte führt. Der Vorstand wiederum wird von einem Präsidium oder einer Mitglieder- oder Delegiertenversammlung kontrolliert. Das bedeutet, dass sich die insbesondere die Vorstände und Präsidien mit den Grundsätzen beschäftigen und die Aktivitäten in ihrer Gliederung, zum Beispiel in ihrem Kreisverband, auf die Vereinbarkeit mit den Grundsätzen prüfen müssen. Da das DRK ein gestufter Verband ist, üben die Gliederungen höherer Verbandstufen eine Aufsicht über die ihnen direkt nachgeordneten Gliederungen aus. Auch hier gibt es Möglichkeiten der Korrektur, im Extremfall den Ausschluss einer Untergliederung als Mitgliedsorganisation und damit aus dem gesamten DRK.
Weitere Informationen
Websites
- DRK.de, Die Grundsätze des Roten Kreuzes und Roten Halbmondes
- ICRC.org, Fundamental Principles
- IFRC.org, Fundamental Principles
- IFRC.org, The Fundamental Principles. A brief history
Analysen und Anwendung
- Jean S. Pictet, Die Grundsätze des Roten Kreuzes, Genf 1956
- Jean Pictet, Die Grundsätze des Roten Kreuzes. Ein Kommentar, Genf/Bonn 1990
- Christian Johann (Hrsg.), DRK-Gesetz. Handkommentar, Baden-Baden 2019 (tatsächlich bereits im September 2018 erschienen), Seiten 46–61
- Hans Haug, The Fundamental Principles of the International Red Cross and Red Crescent Movement, in: Hans Haug, Humanity for all. The International Red Cross and Red Crescent Movement, Genf/Bern 1993
- Verband der Schwesternschaften vom Deutschen Roten Kreuz e.V. (Hrsg.), Berufsethische Grundsätze der Schwesternschaften vom Deutschen Roten Kreuz, 2. Auflage, Berlin 2004
- Internationales Komitee vom Roten Kreuz u.a., Stubborn Realities, Shared Humanity: History in the Service of Humanitarian Action, sowie: Connecting with the Past: the Fundamental Principles of the International Red Cross Red Crescent Movement in Critical Historical Perspective, Genf, 16. und 17. September 2015
Enzyklopädie
- Artikel Menschlichkeit
- Artikel Unparteilichkeit und Neutralität
- Artikel Unabhängigkeit und Freiwilligkeit
- Artikel Einheit und Universalität
- Artikel MUNUFEU
- Artikel Internationale Konferenz des Roten Kreuzes und Roten Halbmonds
- Artikel Leitbild und Rotkreuz-Qualität
Einzelnachweise und Erläuterungen
- ↑ Auch: Grundsätze der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung.
- ↑ Deutscher Bundestag, Gesetz über das Deutsche Rote Kreuz und andere freiwillige Hilfsgesellschaften im Sinne der Genfer Rotkreuz-Abkommen (DRK-Gesetz, DRKG), Berlin 2008, zuletzt geändert 2023, § 1, Satz 2.
- ↑ Obwohl schon durch eigene Satzung und Statuten der Bewegung festgehalten sind die Grundsätze dem DRK auch bundesgesetzlich, im DRK-Gesetz, vorgeschrieben: Das Deutsche Rote Kreuz e. V. (...) beachtet die Grundsätze der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung. — Deutscher Bundestag, Gesetz über das Deutsche Rote Kreuz und andere freiwillige Hilfsgesellschaften im Sinne der Genfer Rotkreuz-Abkommen (DRK-Gesetz, DRKG), Berlin 2008, zuletzt geändert 2023, § 1.
- ↑ Deutsches Rotes Kreuz, Krisenmanagement-Vorschrift des Deutschen Roten Kreuzes (K-Vorschrift), Berlin 2011, Abschnitt 2.5.
- ↑ 5,0 5,1 Bundesverfassungsgericht, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. April 2015 (1 BvR 2274/12), Karlsruhe, 30. April 2015, Rn. 10.
- ↑ Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bezieht sich nur auf einen bestimmten Blutspendedienst, aber sie lässt sich nach Auffassung des Herausgebers auf das ganze Deutsche Rote Kreuz verallgemeinern.
- ↑ Die Konferenz fand von 2. bis 9. Oktober 1965 in Wien statt.
- ↑ Resolutions adopted by the XXth International Conference of the Red Cross, Resolution VIII: Proclamation of the Fundamental Principles of the Red Cross; in: International Review of the Red Cross, 5. Jahrgang, Nr. 56, Genf 1965, Seiten 573f..
- ↑ Jean Pictet, Les principes de la Croix-Rouge, Genf 1955.
- ↑ Martin Krumsdorf, 7 Gute Gründe (Podcast), München 2018ff; Du hast die Wahl!, 31. Folge, 23. März 2021.
- ↑ Gewaltfreies Handeln kann nicht das gleiche wie die Gewalt, so lassen sich etwa unrechte Positionen (z.B. in der Verteilung von Ressourcen) auf die Dauer nicht ohne Gewalt verteidigen. Das Gegenteil von Gewalt heißt deshalb nicht Gewaltlosigkeit, sondern Gerechtigkeit. — Ullrich Hahn, Das Gegenteil von Gewalt ist Gerechtigkeit. Gewaltverzicht und Verantwortung im 21. Jahrhundert, in: Forum Pazifismus. Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit, Nr. 24, IV/2009.