Menschlichkeit

Nachschlagewerk über das Deutsche Rote Kreuz und die Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung

Allgemeines

Der Grundsatz der Menschlichkeit ist einer der sieben Grundsätze der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung. Er ist der oberste und zugleich der am meisten missverstandene Grundsatz der Bewegung. Er wird oft intuitiv und emotional ausgelegt, damit sogar manchmal gegen Gliederungen der Bewegung selbst angeführt, insbesondere von den Mitbewerbern nahe stehenden Kritikern in sozialen Netzwerken und während Verhandlungen über Tarifverträge von Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsseite. Darüber hinaus verliert er durch diesen gefühlsmäßigen Zugang an Schärfe. Der Anspruch, irgendwie "menschlich" zu sein, ist universell und kein Unterscheidungsmerkmal. Die Grundsätze sollen aber wegweisend sein, und das können sie nur durch eine Abgrenzung zwischen gewünschten und nicht gewünschten Verhaltensweisen.

Der Grundsatz Menschlichkeit stellt den hilfsbedürftigen Menschen in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Ihm soll genau die Unterstützung zuteil werden, die er benötigt. Das Rote Kreuz soll nicht Dienstleistungen anbieten, die so gestaltet sind, dass sie Nachfrage finden, sondern menschliches Leid lindern. Die notwendige Auswahl derer, denen die Hilfe zugute kommen soll, richtet sich allein nach dem Maß der Not (Leitsatz), also nicht nach primär wirtschaftlichen und erst recht nicht nach ideologischen Gesichtspunkten. Das Rote Kreuz stellt sich damit außerhalb des Markts und der Politik.

Nichtsdestotrotz ist jede Nationale Gesellschaft auch ein Teil ihrer jeweiligen Gesellschaft und muss in ihr ihren Platz finden. Sie hat die gesellschaftlichen Gegebenheiten als Rahmenbedingungen für ihre Tätigkeit akzeptieren. In der sozialen Marktwirtschaft Deutschlands bedeutet das keinen Verzicht auf den vom Grundsatz der Menschlichkeit geforderten Idealismus, sondern die Aufgabe besteht darin, selbst als Akteur im Markt das Soziale in der wirtschaftlichen Ordnung zu betonen.

Ein lehrreiches Beispiel in diesem Zusammenhang ist das berufliche Scheitern Henry Dunants. Sein aufoperndes Handeln wird in der Rotkreuz- und Rothalb­mond-Be­we­gung gerne idealisiert, wenn nicht gar heroisiert. Er ließ sein Werk Eine Erinnerung an Solferino auf eigene Kosten drucken und verschenkte dann die Bücher. Das ist eine sehr anerkennenswerte Investition eigenen Kapitals, und das hat sicher zur erfolgreichen Gründung der Keimzelle des Roten Kreuzes in Genf ganz erheblich beigetragen. Doch konnte er sich dann in die Strukturen einer schnell wachsenden, internationalen Organisation nicht einfinden. Außerdem vernachlässigte er seine beruflichen Aufgaben, was ihn in die Insolvenz führte und seine gesellschaftliche Stellung nachhaltig schädigte, in seiner Heimat sogar geradezu zerstörte. Dunant hatte die Idee, aber war nicht der Gründer des Roten Kreuzes, als der er fälschlicherweise oft bezeichnet wird (→ Irrtümer).

Idealistische Ideen müssen organisiert und finanziert werden, damit sie erfolgreich ihre wohltätige Wirkung entfalten können. Eine betriebswirtschaftlich professionelle Geschäftsführung ist daher gerade im Sinne der Menschlichkeit, denn sie schafft die organisatorischen und finanziellen Voraussetzungen um dieses Ziel zu verwirklichen. Das rechtfertigt selbstverständlich nicht jedes Geschäftsgebaren, aber zur ökonomischen Vernunft gehören auch unangenehme Entscheidungen wie Abbau von Leistungen oder Entlassung von Mitarbeitern.

Grundsatz

Deutscher Text

Die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung, entstanden aus dem Willen, den Verwundeten der Schlachtfelder unterschiedslos Hilfe zu leisten, bemüht sich in ihrer internationalen und nationalen Tätigkeit, menschliches Leiden überall und jederzeit zu verhüten und zu lindern. Sie ist bestrebt, Leben und Gesundheit zu schützen und der Würde des Menschen Achtung zu verschaffen. Sie fördert gegenseitiges Verständnis, Freundschaft, Zusammenarbeit und einen dauerhaften Frieden unter allen Völkern.1

Englischer Text

The International Red Cross and Red Crescent Movement, born of a desire to bring assistance without discrimination to the wounded on the battlefield, endeavours, in its international and national capacity, to prevent and alleviate human suffering wherever it may be found. Its purpose is to protect life and health and to ensure respect for the human being. It promotes mutual understanding, friendship, cooperation and lasting peace amongst all peoples.2

Deutscher Slogan

Wir helfen Menschen – aus Achtung ihrer Würde (ab 2018)

Wir dienen dem Menschen, aber keinem System (2000–2017)

Fallbeispiele

Soziale Hilfen bei einem Sanitätswachdienst (fiktiv)

Die Bereitschaft eines Ortsvereins betreut eine größere Sportveranstaltung. Da sie großes Interesse findet, ist er mit mehr Helfern vor Ort als benötigt und angefordert. Dieser zweitägige Einsatz ist sehr wichtig für ihn, weil er dadurch seine Finanzlage aufbessern kann, um einen neuen AED (automatischen, externen Defibrillator) beschaffen zu können.

Es stellt sich im Laufe des ersten Tags heraus, dass sich die behindertengerechte Toilette in einem Untergeschoss befindet und der Aufzug defekt ist. Rollstuhlfahrer können daher ohne fremde Hilfe nicht die Toilette aufsuchen. Die Helfer vom Roten Kreuz erkennen das Leid und entscheiden sich dazu, bei Bedarf immer zu zweit an der Treppe zu helfen. Einer von ihnen kennt einen Elektriker und ruft ihn an. Der Elektriker kommt vorbei und behebt den kleinen Defekt am Aufzug, damit er am zweiten Tag wieder funktioniert.

Die soziale Hilfe an der Treppe und die Vermittlung des Handwerkers sind keine Leistungen, die der Ortsverein vertraglich zu erbringen hat. Es gibt aber ein menschliches Leid, und das kann er in dieser Situation lindern und sogar beheben, ohne seinen anderen Auftrag, den Sanitätswachdienst, zu gefährden. Der Grundsatz der Menschlichkeit gebietet daher, dass er hier hilft.

Sicherheitsdienste durch das DRK

Ein Sicherheitsdienst, den eine Gliederung des Deut­schen Roten Kreu­zes erbrächte — aktuell (2020) scheint es keine solche Leistung im Verband zu geben —, stände in einem Konflikt mit dem Grundsatz der Menschlichkeit. Dieser Grundsatz stellt zwar keine Grenzen auf, aber er gibt der Organisation Ziele vor, und zum Beispiel ein Objektschutz würde nicht zur Erreichung dieser Ziele unmittelbar beitragen.

Eine Nationale Gesellschaft und ihre Gliederungen dürfen Aufgaben wahrnehmen, die nicht ihrem eigentlichen Auftrag fremd sind, um dadurch finanzielle Mittel zu generieren, die sie wiederum zur Erreichung ihrer Aufgaben als Rotkreuz-Organisation einsetzen können. Das trägt zu ihrer Unabhängigkeit bei. Der Zentrale Omnibusbahnhof (ZOB) in München ist ein Beispiel in Deutschland dafür. Diese Tätigkeiten sollten jedoch so erbracht werden, dass sie die humanitären Leistungen der Organisation nicht beeinträchtigen. Daher ist es ratsam, das Kennzeichen für Tätigkeiten, die keinen inneren Bezug zum humanitären Auftrag haben, nicht zu verwenden.

Sicherheitsdienste stellen eine weitere Herausforderung dar, die nicht auf die Grundsätze zurückgeht. Diese Dienstleistung ist mit der Androhung oder im Zweifel auch Ausübung von Gewalt verbunden. Das passt nicht zum Bild einer helfenden Organisation und kann sowohl ihrem Ansehen schaden als ihre Einsätze an anderer Stelle gefährden.

Die Wachdienste der Bereitschaften (Sanitätswachdienst) und der Wasserwacht sind keine Wachdienste, wie sie die gewerblichen Sicherheitsdienste erbringen.

Schwangerschaftskonfliktberatung

Die künstliche, beabsichtige Beendigung einer Schwangerschaft einer Frau setzt in Deutschland eine fachkundige, ergebnisoffene Beratung bei einem anerkannten Träger voraus, um straffrei zu sein (§ 218f. StGB). Viele Kreis- und Landes­verbände des DRK bieten Schwangerschaftsberatung mit der Möglichkeit, einen für einen Schwangerschaftsabbruch erforderlichen Beratungsschein zu erhalten, an.

Der Abbruch einer Schwangerschaft ist zweifelsfrei, unabhängig von der Sichtweise, die Beendigung eines im Entstehen befindlichen Lebens. Dem Grundsatz der Menschlichkeit zufolge ist die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung […] bestrebt, Leben und Gesundheit zu schützen und der Würde des Menschen Achtung zu verschaffen. Die Tötung eines Menschen ist damit nicht vereinbar.

Zunächst ist die Schwangerschaftsberatung selbst keine Tötungshandlung, sondern sie schafft formal die Voraussetzung dafür, wenn ein Beratungsschein ausgestellt wird. Die Entscheidung liegt letztlich bei der schwangeren Frau, und der Abbruch wird in einer Arztpraxis oder Klinik vorgenommen. In der Handlungskette, die zum Tötungsakt führt, ist die Beratung also ein zwar notwendiges, jedoch schwaches Glied.

Bei der Bewertung ist zu das gesetzlich vorgegebene Beratungsziel zu berücksichtigen, das mit den Zielen des Grundsatzes übereinstimmt:

Die Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens. Sie hat sich von dem Bemühen leiten zu lassen, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen; sie soll ihr helfen, eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen. Dabei muß der Frau bewußt sein, daß das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat […].3

Außerdem sollen die Bundesländer für ein ausreichendes Angebot wohnortnaher Beratungsstellen4 sorgen, wobei ein ausreichendes plurales Angebot sicherzustellen ist4.1. Wenn das örtlich oder regional umgesetzt wurde, dann ist zwar die Beratung eine notwendige Voraussetzung für den Abbruch, jedoch nicht die Beratung bei einer Beratungsstelle des DRK.

Weitere Informationen

Einzelnachweise

  1. Deutsches Rotes Kreuz, Die Grundsätze des Roten Kreuzes und Roten Halbmondes, Berlin, 15. Mai 2019.
  2. Vormals hier: https://www.ifrc.org/fundamental-principles.
  3. § 219 Abs. 1 StGB.
  4. § 3 SchKG.
    1. § 8.