Felix Grüneisen: Das Deutsche Rote Kreuz in Vergangenheit und Gegenwart – Einleitung
Einleitung
[1] Seit 75 Jahren hat das Genfer Abkommen zur Verbesserung des Loses der verwundeten Soldaten der Armeen im Felde vom 22. August 18641 das Zeichen und den Begriff des Roten Kreuzes im weißen Felde2 zu einem unverlierbaren Gut aller Völker und Länder des Erdballes gemacht. Nationale Gesellschaften vom Roten Kreuz3 in heute 61 Staaten sind die lebendigen Werkzeuge dieses Gedankens, den sie in Kriegs- und Friedenszeiten in praktischer Tätigkeit verwirklichen. Das Deutsche Rote Kreuz, als eine der größten nationalen Hilfsgesellschaften im Sinne des Genfer Abkommens, hat die ihm vom Führer des Deutschen Volkes und Reiches4 gestellte Aufgabe, den Dienst an den Verwundeten und Kranken der Wehrmacht im Kriege zu leisten und sich dafür in Friedenszeiten so vorzubereiten, daß es seiner Verpflichtung gegenüber Volk und Reich in vollem Umfang seiner Verantwortlichkeit zu entsprechen vermag.5
Der damit gegebene Auftrag an das Deutsche Rote Kreuz verlangt mehr als die technische Erfüllung zahlenmäßig umschriebener Leistungen. Er fordert Verständnis für Wesen und Gedanken des Roten Kreuzes bei denen, die in seinem Zeichen zu arbeiten und zu wirken haben, erfordert, daß der Geist dieses Gedankens selbst lebendig erfaßt und ständig neu erschlossen wird. Das ist um so notwendiger, als der Gedanke seit 75 Jahren in den Grundzügen unverändert feststeht, in seiner Erscheinungsform aber dem Gestaltwandel unterworfen ist, ohne den nichts [2] Lebendiges bestehen kann. Im deutschen Volk, dessen gesamtes Leben von einem einheitlichen Gedankengut bestimmt und geleitet wird, kann ein Werk nicht Dauer haben, das nicht geistig klar gegründet ist und mit nationalsozialistischer Anschauung übereinstimmt.
Dieses Buch verbindet deshalb die Darstellung des Deutschen Roten Kreuzes, wie es heute ist und wie es werden will, mit der Aufzeichnung seiner Geschichte nach innen und außen. Dieser Rückblick dient dem Verstehen des heute Gewordenen und des zukünftig Werdenden als Stufen unaufhaltsam fließender Entwicklung; er dient dem dankbaren Gedenken an die Leistungen der Männer und Grauen von drei Generationen, er dient der Erinnerung, daß Geschichte verpflichtet. Und diese führt weiter zurück als ein Dreivierteljahrhundert in die Geistesgeschichte Europas, und ganz besonders Deutschlands.
Die achtungsvolle Schonung des verwundeten und gefangenen feindlichen Soldaten und dessen sorgfältige Pflege gleichwie der Soldaten des eigenen Heeres — der Grundgedanke des Roten Kreuzes — ist seit Jahrhunderten stillschweigend anerkanntes Kriegsrecht.6 Zur praktischen Verwirklichung sind zwei Erfordernisse zu erfüllen: der völkerrechtliche Schutz, der die Gegenseitigkeit zwischen den Kriegführenden gewährleistet, und die Sicherstellung ausreichender Kräfte für die Pflege verwundeter und erkrankter Soldaten durch die Aufbietung freiwilliger Hilfeleistung. Die Verbindung dieser beiden Erfordernisse, die jede für sich seit Jahrhunderten erkannt und vielfach erfüllt waren, zu einer ständigen, weltumspannenden Einrichtung ist das Werk Henri Dunants7 und der Männer, denen das Genfer Abkommen von 1864 zur danken ist8. Die Teilnahme an diesem Werk hängt nicht allein von der Unterzeichnung einer völkerrechtlichen Akte ab. Sie setzt von jedem Volke, das mittun will, voraus, daß es im Geist echter Ritterlichkeit zu handeln und zu kämpfen gewillt ist, dem Geist, der bereit ist, für das eigene Volk und Vaterland jedes letzte Opfer zu bringen und den Gegner achtet, der das gleiche tut, und deshalb diesen Gegner nicht nur schont, sondern als Kameraden betrachtet, sobald er kampfunfähig geworden ist. Diese ritterliche Haltung bis in die Leidenschaft des Kampfes hinein ist es, die dem Zeichen und Gedanken des Roten Kreuzes immer wieder neue Jugend gibt und ihm junge Menschen wirbt.
[3] Gegner hat der Gedanke des Roten Kreuzes von Anfang an bis heute nur im Lager des humanitären Pazifismus gefunden, mit dessen Angriffen sich bereits die Urheber des Roten Kreuzes und des Genfer Abkommens, Henri Dunant und Gustave Moynier9, auseinanderzusetzen hatten. Bei der Eröffnung der Genfer Konferenz 1863 gab der Vorsitzende, der Schweizer General Dufour10, folgende Erklärung ab: „Trotz der menschenfreundlichen Bemühungen der Friedens-Kongresse — Bemühungen, denen wir wohl alle Achtung und alles Mitgefühl, das sie verdienen, bezeugen können, ohne uns über den geringen Erfolg, auf den sie vielleicht rechnen können, zu täuschen — wird es, solange die menschlichen Leidenschaften dauern, und das wird wohl noch lange der Fall sein, Kriege auf dieser Erde geben. Anstatt also dem Trugbild ihrer Unterdrückung nachzujagen, muß man, um der Menschheit wahrhaft zu nützen, darauf bedacht sein, die Furchtbarkeit ihrer Folgen möglichst zu mildern, indem man aufs kräftigste diejenigen unterstützt, welche kraft ihrer Stellung die Aufgabe haben, jenem Elend abzuhelfen; man muß ihnen die Mitwirkung der Hände verschaffen, die ihnen jetzt noch fehlen, und zwar ohne dadurch den Heeresleitungen nachteilige Hindernisse zu bereiten.“ Damit wurde von vornherein die Grenze scharf gezogen, die marxistische Voltsverneinung und pazifistischen Internationalismus von Geist und Wesen des Roten Kreuzes trennt. Diese Auffassung steht im Einklang mit den Gedanken des deutschen Klassikers der Kriegskunst Clausewitz11, des Lehrers des um das Zustandekommen des Genfer Abkommens verdienten Kriegsministers von Roon12, wenn er in „Vom Kriege“13 I, 1, 3 schreibt:14
„Der Krieg ist ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.“
„Nun könnten menschenfreundliche Seelen sich leicht denken, es gebe ein künftliches Entwaffnen oder Niederwerfen des Gegners, ohne zuviel Wunden zu verursachen, und das sei die wahre Tendenz der Kriegskunst. Wie gut sich das auch ausnimmt, so muß man doch diesen Irrtum zerstören; denn in so gefährlichen Dingen wie der Krieg eins ist, sind die Irtümer, welche aus Gutmütigkeit entstehen, gerade die schlimmsten.“
„Sind die Kriege der gebildeten Völker viel weniger grausam und zerstörend als die der ungebildeten, so liegt das in dem gesellschaftlichen Zu-[4]stand sowohl der Staaten in sich als untereinander. Aus diesem Zustand und seinen Verhältnissen geht der Krieg hervor, durch ihn wird er verdrängt eingeengt, ermäßigt: aber diese Dinge gehören ihm nicht selbst an, sind ihm nur ein Gegebenes, und nie kann in die Philosophie des Krieges selbst ein Prinzip der Ermäßigung hineingetragen werden, ohne eine Absurdität zu begehen.“
„Finden wir also, daß gebildete Völker den Gefangenen nicht den Tod geben, Stadt und Land nicht zerstören, so geschieht dies, weil sich die Intelligenz mehr in ihre Kriegführung mischt und sie wirksamere Mittel zur Anwendung der Gewalt gelehrt hat, als diese rohen Äußerungen des Instinkts.“
Von diesem Gedankengut geht Lueder15, der deutsche Kommentator der ersten Fassung der Genfer Konvention in dem monumentalen Werk von 187616 aus: „Der Krieg ist das äußerste Mittel für den äußersten Zweck. Lieblich ist er nun einmal nicht zu machen, und wenn er einmal ausgebrochen, so ist er naturgemäß die Hauptsache, gegen die, solange er dauert, alles andere zurücktreten muß, und führt unendliche Leiden mit sich, die man alle nun einmal nicht beseitigen kann. Sonst müßte man in letzter Konsequenz zum ‚Schießen gilt hier nicht′ kommen. Das wird und kann der Krieg sich aber so wenig gefallen lassen, wie irgendeine andere wenn auch noch so sehr der Humanität entsprechende Einschränkung seiner gewaltsamen Energie, soweit er derselben für seine Zwecke bedarf. Was ihn in der Verfolgung seines Zweckes hemmt, das zertrümmert er, Fesseln kann er seiner Natur und seinen Zwecken nach nicht tragen. Es kann deshalb unmöglich heißen: Der Krieg darf so und so weit geführt werden, als er human ist, sondern nur: Die Humanität darf soviel Berücksichtigung verlangen, als es der Krieg und sein Zweck gestatten.“
Diese beiden Zeugnisse, die je ein ganzes und ein halbes Jahrhundert alt sind, drücken in der Sprache ihrer Zeit in vollkommener Weise das aus, was jeder empfindet, der sich heute mit dem Gedanken des Roten Kreuzes auseinandersetzt. Der Gedanke des Roten Kreuzes, der von den Schöpfern des Genfer Abkommens als Idee der Humanität erfaßt und gegen eine Welt von Widerständen durchgesetzt wurde, ist heute im Bewußtsein der nationalsozialistisch erzogenen Jugend in gleicher Weise lebendig [5] und wirkungskräftig in der Spannung des Begriffes zu der Unbedingtheit des Krieges. Der tiefste Antrieb, aus der Gedankenwelt und dem Erleben der Soldaten des Weltkrieges17 selbst erwachsen, heißt heute Kameradschaftlichkeit und Opferbereitschaft und Ritterlichkeit.
Der Soldat des Weltkrieges, Adolf Hitler18, hat in seiner Form, die jedem Deutschen als letzte und entscheidende Beweisführung gilt, sich zu dem Grundgedanken des Roten Kreuzes in der Reichstagsrede vom 21. Mai 1935 mit den Worten bekannt:19
„Die deutsche Reichsregierung ist bereit, sich an allen Bestrebungen aktiv zu beteiligen, die zu praktischen Begrenzungen uferloser Rüstungen führen können. Sie sieht den zur Zeit einzig möglichen Weg hierzu in einer Rückkehr zu den Gedankengängen der einstigen Genfer Konvention des Roten Kreuzes20. Sie glaubt zunächst nur an die Möglichkeit einer schrittweisen Abschaffung und Verfemung von Kampfmitteln und Kampfmethoden, die ihrem innersten Wesen nach im Widerspruch stehen zur bereits geltenden Genfer Konvention des Roten Kreuzes.“
„Sie glaubt dabei, daß ebenso wie die Anwendung von Dumdumgeschossen21 einst verboten22 und im großen ganzen damit auch praktisch verhindert wurde, auch die Anwendung anderer bestimmter Waffen zu verbieten und damit auch praktisch zu verhindern ist. Sie versteht darunter alle jene Kampfwaffen, die in erster Linie weniger den kämpfenden Soldaten, als vielmehr den am Kampfe selbst unbeteiligten Frauen und Kindern Tod und Vernichtung bringen.23“
„Wenn es einst gelang, durch die Genfer Rote-Kreuz-Konvention die an sich mögliche Tötung des wehrlos gewordenen Verwundeten oder Gefangenen allmählich zu verhindern, dann muß es genau so möglich sein, durch eine analoge Konvention den Bombenkrieg gegen die ebenfalls wehrlose Zivilbevölkerung zu verbieten und endlich überhaupt zur Einstellung zu bringen.“24
„Deutschland sieht in einer solchen grundsätzlichen Anfassung dieses Problems eine größere Beruhigung und Sicherheit der Völker, als in allen Beistandspakten und Militärkonventionen.“
Erläuterungen
- ↑ Das erste Genfer Abkommen heißt mit vollem Namen: Genfer Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde. Es wurde am 22. August 1864 wurde in Genf beschlossen.
- ↑ Neben dem Wahrzeichen des Roten Kreuzes war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung auch schon der Rote Halbmond etabliert.
- ↑ Die Nationalen Gesellschaften sind Komponenten der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung.
- ↑ Adolf Hitler (1889–1945).
- ↑ Die unverhohlen angeordnete Kriegsvorbereitung für das Deutsche Reich bzw. den NS-Staat findet sich zum Beispiel in Hitlers Denkschrift zum Vierjahresplan von 1936.
- ↑ Zu den Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg (1939–1945) gehörte hingegen die mörderische Behandlung von Kriegsgefangenen, insbesondere der Angehörigen der Roten Armee.
- ↑ Henry Dunant (1828–1910).
- ↑ Gemeint sein dürfte das Komitee der Fünf (Comité des Cinq) in Genf, das neben Henry Dunant (1828–1910) aus Gustave Moynier (1826–1910), Guillaume Henri Dufour (1787–1875), Louis Appia (1818–1898) und Théodore Maunoir (1806–1869) bestand.
- ↑ Gustave Moynier (1826–1910).
- ↑ Guillaume Henri Dufour (1787–1875).
- ↑ Carl von Clausewitz (1780–1831).
- ↑ Der preußische Kriegsminister Albrecht von Roon (1803–1879) befürwortete die mit der Veröffentlichung seines Werks Eine Erinnerung an Solferino beginnende Initiative von Henry Dunant (1828–1910), die unter anderem im Beschluss der Genfer Abkommen mündeten: The minister of war, Albrecht Graf von Roon, whose task was ‘to free the Prussian army from liberal influences’, was the first decision-maker to signal his support to Dunant. A ministry memorandum of 4 October 1863 emphasized positive experiences with the Order of St John and women’s associations during the Napoleonic Wars, and the fact that voluntary associations were free of charge. In addition, to bring medical services up to the level required would cause further ‘considerable expense’, the memorandum went on, which would aggravate the budget conflict. Raison d’état also shines through the Prussian delegate’s report from the first Geneva conference. Dr Löffler claims to have frustrated the Geneva committee’s attempts to bring ‘all these associations’ under the authority of a central, international agency. Instead, future associations would remain under governmental control. After the conference, von Roon assured Bismarck that Dunant’s ideas had been brought down from the utopian level to serve a practical purpose in line with the interests of the Prussian army. — Matthias Schulz, Dilemmas of ‘Geneva’ Humanitarian Internationalism: The International Committee of the Red Cross and the Red Cross Movement, 1863-1918, in: Johannes Paulmann (Hrsg.), Dilemmas of Humanitarian Aid in the Twentieth Century, Oxford 2016, Seiten 35–62; hier: Seite 43.
- ↑ Marie von Clausewitz (Hrsg.), Vom Kriege. Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz, Berlin 1832–1834.
- ↑ Vergleiche dazu die Quelle im Volltext.
- ↑ Karl Lueder (1834–1895).
- ↑ Karl Lueder, Die Genfer Convention. Historisch und kritisch-dogmatisch mit Vorschlägen zu ihrer Verbesserung, unter Darlegung und Prüfung der mit ihr gemachten Erfahrungen und unter Benutzung der amtlichen, theilweise ungedruckten Quellen bearbeitet, Erlangen 1876.
- ↑ Gemeint ist der Erste Weltkrieg (1914–1918).
- ↑ Adolf Hitler (1889–1945) diente als Meldegänger im Königlich Bayerischen 16. Reserve-Infanterie-Regiment.
- ↑ Vergleiche dazu den Volltext der Rede.
- ↑ Die Genfer Abkommen werden bis heute auch als Genfer Konventionen bezeichnet.
- ↑ Dum-Dum-Geschosse sind Deformationsgeschosse, die zu schweren Verletzungen führen.
- ↑ Abgesehen von den durch Sonderverträge aufgestellten Verboten, ist namentlich untersagt: [...] der Gebrauch von Waffen, Geschossen oder Stoffen, die geeignet sind, unnötigerweise Leiden zu verursachen [...]. — Internationale Übereinkunft betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs vom 29. Juli 1899, Artikel 23, Buchstabe e.
- ↑ Das ist, zumindest bezüglich der Deformationsgeschosse, offensichtlich falsch.
- ↑ Im Rahmen der in Großbritannien The Blitz genannten Kampagne bombardierte hingegen die deutsche Wehrmacht in 1940 und 1941 unter anderen die Zivilbevölkerung Londons.